Der Widerspruch moderner Digitalstrategien
Moderne Unternehmens- und Digitalstrategien versprechen Agilität, um schneller auf Marktveränderungen, Kundenwünsche und technologische Sprünge reagieren zu können. Dadurch könnte der entscheidende Wettbewerbsvorteil entstehen. Doch dieses Streben nach Geschwindigkeit kollidiert oft mit der starren Realität der eigenen IT-Infrastruktur und bremst damit die Innovationsperformance signifikant aus.
Das Problem liegt nicht zwingend in mangelndem Budget oder fehlenden Visionen, sondern in der architektonischen DNA gewachsener IT-Landschaften. Veraltete Systemarchitekturen, die über Jahrzehnte entstanden sind, bilden ein Geflecht aus starren Abhängigkeiten, das sich jeder schnellen Veränderung widersetzt. Was in Strategieworkshops als agile Prozessoptimierung skizziert wird, scheitert in der Realität an technischen Barrieren, die tiefer reichen als die meisten Entscheider vermuten.
Veraltete, monolithische Systeme und komplexe, undokumentierte Abhängigkeiten schaffen ein rigides Korsett, das schnelle Anpassungen verhindert. Jede noch so kleine Prozessänderung erfordert tiefgreifende Eingriffe in den Code, was zu langen Entwicklungszyklen und hohen Kosten führt.
Besonders kritisch wird diese Diskrepanz im Kontext von KI-Projekten. Künstliche Intelligenz benötigt verlässliche Echtdaten und flexible Integrationsmöglichkeiten und genau das können monolithische Legacy-Systeme oft nicht liefern. Die IT wird damit vom strategischen Enabler zum strukturellen Flaschenhals.
Wie technisch-organisatorische Hürden strategische Ambitionen blockieren
Auch wenn viele ambitionierte Digital- und KI-Initiativen auch der fehlenden Management-Unterstützung oder mangelndem Know-how scheitern, so ist ist technisch-organisatorische Infrastruktur ebenfalls ein entscheidender Bremsfaktor.
- Monolithische Systemlandschaften aus ERP-, CRM- und Produktionssystemen sind über Jahre hinweg zu komplexen, schwer durchschaubaren Konstrukten gewachsen. Geschäftslogik ist tief in proprietären Systemkernen verankert, Schnittstellen existieren nur punktuell oder gar nicht. Jede Anpassung löst Kettenreaktionen aus, die Monate dauernde Change-Prozesse nach sich ziehen. Eine Änderung an einer Stelle kann unvorhersehbare Konsequenzen an anderer Stelle auslösen.
- Fehlende Schnittstellen (APIs): Moderne KI-Anwendungen benötigen einen schnellen und standardisierten Zugriff auf Daten. Wenn Legacy-Systeme keine sauberen APIs bieten, wird die Datenbeschaffung zu einem manuellen, fehleranfälligen und langsamen Prozess.
- Übermäßige Komplexität: Die Anwendungsarchitektur ist so verworren, dass selbst erfahrene IT-Teams den Aufwand für Änderungen kaum noch abschätzen können.
- Fehlende Modularität verhindert, dass einzelne Prozessschritte isoliert optimiert werden können. Wer einen Teilbereich digitalisieren möchte, muss das gesamte System anfassen, was mit entsprechenden Risiken für den laufenden Betrieb verbunden ist. Weil dieses Risiko gescheut wird, verharren Organisationen, selbst wenn die Ineffizienz offensichtlich ist, im Status quo.
- Überladene Change-Prozesse verstärken das Problem. Governance-Strukturen, die in einer Zeit entstanden sind, als Software-Updates jährliche Ereignisse waren, passen nicht zu einer Welt, in der Wettbewerber täglich neue Features ausrollen. IT-Abteilungen werden zu Verwaltungseinheiten, die Veränderung verwalten statt sie zu gestalten. „Never touch a running system“ wird damit zum Show-Stopper der digitalen Transformation.
In dieser Konstellation verkehrt sich die Rolle der IT ins Gegenteil. Statt ein Enabler für neue Geschäftsmodelle und Effizienzsteigerungen zu sein, wird sie zum Flaschenhals, der strategische Entwicklungen blockiert oder zumindest erheblich verzögert. Der im Workshop entworfene, agile Prozess bleibt eine Powerpoint-Folie, weil die IT-Systeme ihn schlicht nicht abbilden können.
Die Anatomie der technologischen Trägheit
Die Ursachen der strukturellen IT-Trägheit
Die technologische Schwerfälligkeit ist kein plötzliches Phänomen, sondern das Ergebnis jahrelanger Entwicklungen:
- Gewachsene Legacy-Systeme: Viele Kernsysteme stammen aus einer Zeit, in der Stabilität und nicht Flexibilität das oberste Designprinzip war. Sie wurden für klar definierte, selten wechselnde Prozesse gebaut. Legacy-Systeme sind also nicht per se problematisch. Viele funktionieren seit Jahrzehnten zuverlässig. Kritisch wird es, wenn sie geschlossene Black Boxes darstellen, deren Innenleben nur noch wenige Spezialisten verstehen. Veraltete Dokumentationen, vergessene Abhängigkeiten und explodierende Wartungskosten stellen die Unternehmen vor gewaltige Herausforderungen.
- Fehlende Modularität: Anstatt Funktionen in unabhängige, wiederverwendbare Module (Microservices) zu gliedern, wurde Code oft prozedural und redundant entwickelt.
- Enge Kopplung von Prozess und Code: Die Geschäftslogik ist fest im Quellcode der Altsysteme verankert. Eine Prozessänderung erfordert somit immer eine Codeänderung, was teuer und riskant ist. Insbesondere für KI-Ansätze bedeutet das z.B.: Wenn die Rabattberechnung direkt im ERP-Kern programmiert ist, lässt sie sich nicht durch ein KI-Modell ersetzen, das dynamische Preisoptimierung ermöglicht. Die Geschäftslogik ist im System gefangen.
- Überladene Change-Prozesse: Aus Angst vor Systemausfällen wurden bürokratische Test- und Freigabeprozesse etabliert, die selbst kleinste Anpassungen über Wochen oder Monate verzögern.
- Fehlende API-Architekturen verhindern, dass moderne Anwendungen auf bestehende Datenbestände zugreifen. Ohne standardisierte Schnittstellen bleiben KI-Modelle auf manuelle Datenexporte angewiesen, was einen klaren Widerspruch zur Idee automatisierter, datengetriebener Prozesse darstellt.
Die betriebswirtschaftlichen Folgen
Diese technologische Trägheit hat direkte und gravierende ökonomische Konsequenzen, die weit über die direkten IT-Kosten hinausgehen:
- Innovationsverzögerungen führen zu Marktanteilsverlusten. Während Wettbewerber neue Geschäftsmodelle testen, hängen traditionelle Unternehmen in monatelangen Systemanalysen fest. Time-to-Market wird zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor – und zur größten Schwäche.
- Hohe Anpassungskosten verschlingen Budgets, die für strategische Projekte fehlen. Studien beziffern die durchschnittlichen Kosten für die Anpassung von Legacy-Systemen auf das 3- bis 5-fache der ursprünglichen Entwicklungskosten. IT-Budgets werden zu Erhaltungsinvestitionen statt zu Innovationstreibern.
- Entgangene Effizienzpotenziale summieren sich zu erheblichen Opportunitätskosten. Prozesse, die durch Automatisierung 80% schneller laufen könnten, bleiben unverändert. Dies geschieht nicht, weil die Lösung unbekannt wäre, sondern weil die technische Umsetzung zu komplex und teuer ist. KI-Modelle könnten Prozesse massiv optimieren, aber wenn sie nicht auf die notwendigen Echtzeitdaten zugreifen können, bleibt ihr Potenzial ungenutzt.
- Abhängigkeit von externen Dienstleistern entsteht, wenn internes Know-how schwindet und nur noch Systemhersteller oder spezialisierte Berater Änderungen durchführen können. Diese Abhängigkeit ist nicht nur teuer, sondern auch strategisch riskant.
Spezifische Risiken im Kontext von KI-Projekten
Für KI-Initiativen ist eine starre IT-Landschaft besonders toxisch. KI-Modelle sind nur so gut wie ihre Datengrundlage. Wenn sie auf veraltete oder unvollständige Informationen zugreifen, liefern sie bestenfalls irrelevante, schlimmstenfalls schädliche Ergebnisse.
- Gescheiterte Integrationen sind der Hauptgrund, warum KI-Prototypen nicht in den produktiven Betrieb gelangen. Laut einer Gartner-Analyse scheitern 85% aller KI-Projekte an Integrationsproblemen, nicht an unausgereiften Algorithmen. Das Modell funktioniert, aber die Anbindung ans ERP nicht. Jedes vielversprechende KI-Modell bleibt wertlos, wenn es nicht nahtlos in den operativen Prozess integriert werden kann.
- „Garbage In, Garbage Out“: Greift ein KI-Modell auf unvollständige oder veraltete Daten zu, weil die Schnittstelle zum Altsystem nur nächtliche Batch-Exporte erlaubt, trifft es Entscheidungen auf einer falschen Grundlage.
- Fehlende Feedback-Schleifen verhindern, dass KI-Systeme lernen können. Wenn Vorhersagen nicht mit tatsächlichen Ergebnissen abgeglichen werden, weil die Datenflüsse nicht automatisiert sind, bleibt maschinelles Lernen statisch.
Paradigmenwechsel: Von der System- zur Logikzentrierung
Das Problem liegt nicht in den Systemen selbst, sondern in der Architekturphilosophie. Traditionelle IT-Landschaften sind systemzentriert. Das heißt, dass die Software bestimmt, wie Prozesse ablaufen. Anpassungen bedeuten damit Systemanpassungen.
Der notwendige Paradigmenwechsel führt zur Logik- oder Prozesszentrierung. Eine flexible Orchestrierungsschicht entkoppelt die Geschäftslogik von der Systemlogik. Prozesse werden nicht mehr in Systemen programmiert, sondern als übergeordnete Workflows definiert, die auf verschiedene Systeme zugreifen. Die Systeme werden zu Datenlieferanten und Ausführungsinstanzen und verlieren ihre Prozessherrschaft.
Dieser Ansatz ermöglicht es, dass KI-Komponenten nahtlos in bestehende Prozesse integriert werden können ohne dass jedes beteiligte System angepasst werden muss. Die Intelligenz liegt in der Orchestrierung, nicht in den Einzelsystemen.
Strategien für architektonische Offenheit
Unternehmen müssen nicht ihre gesamte IT-Landschaft auf einmal ersetzen, um agil und KI-fähig zu werden. Der Schlüssel liegt in einer schrittweisen Entkopplung und Öffnung.
- Entkopplung monolithischer Systeme durch API-Gateways und Middleware
- Führen Sie eine zentrale API-Management-Schicht ein. API-Gateways schaffen eine standardisierte Zugriffsschicht auf Legacy-Systeme. Statt direkter Systemintegrationen kommunizieren Anwendungen über einheitliche Schnittstellen. Das reduziert die Komplexität drastisch und die Daten und Funktionen der Altsysteme werden für neue Anwendungen zugänglich und kontrollierbar.
- Integration-Plattformen bieten vorgefertigte Konnektoren für gängige Enterprise-Systeme. Sie übersetzen zwischen verschiedenen Datenformaten und Protokollen und bilden damit die technische Grundlage für eine flexible Prozessgestaltung.
- Aufbau modularer Prozess- und Datenebenen
- Low-Code/No-Code-Plattformen ermöglichen es Fachbereichen, Prozesse selbst zu orchestrieren, ohne auf IT-Entwicklungszyklen angewiesen zu sein. No-Code-Plattformen trennen die Prozesslogik von der technischem Implementierung. Dadurch können neue Prozesse schnell und flexibel modelliert werden. Diese Plattformen agieren als Orchestrierungsschicht und greifen über die neuen APIs auf die Funktionen der Kernsysteme zu, ohne deren Code zu verändern.
- Data Fabric-Architekturen (Data Warehouses, Data Lakes) schaffen für spezielle Anwendungsfälle eine virtuelle Datenschicht, die Informationen aus verschiedenen Quellen konsistent zur Verfügung stellt. KI-Modelle greifen in diesen Spezialfällen unabhängig davon, wo die Ursprungsdaten liegen, nicht mehr auf einzelne Systeme sondern auf eine einheitliche Datenebene zu.
- Einführung KI-fähiger Integrationsschichten
- Semantische APIs gehen über reine Datenübertragung hinaus. Sie verstehen die Bedeutung von Informationen und können zwischen verschiedenen Datenmodellen übersetzen. Durch einen Knowledge Graph kann z.B. ein Kundenbegriff im CRM automatisch mit dem entsprechenden Debitorendatensatz im ERP verknüpft werden, auch wenn die Systeme unterschiedliche Strukturen nutzen.
- KI-gestützte Integration-Assistenten analysieren Legacy-Code und erstellen automatisch Dokumentationen und Schnittstellen. Entsprechende Werkzeuge können Systemlogik extrahieren und in moderne API-Beschreibungen übersetzen.
- Neudefinition der IT-Rolle
Der kulturelle Wandel ist mindestens so wichtig wie der technische. IT-Abteilungen müssen sich vom „Systemverwalter“ zum „Architekten der Veränderung“ entwickeln oder dieses Mindset zumindest technisch unterstützen. Das bedeutet:
- Von Ticket-Bearbeitung zu Plattform-Bereitstellung: Statt einzelne Anfragen umzusetzen, schaffen IT-Teams Infrastrukturen, die Fachbereichen Selbstständigkeit ermöglichen.
- Von Gatekeeper zu Enabler: Statt zu kontrollieren, was möglich ist, wird definiert, wie es sicher möglich wird. Ihre Hauptaufgabe ist nicht mehr die Wartung von Altsystemen, sondern die Schaffung einer flexiblen, modularen Architektur, die es den Fachbereichen ermöglicht, schnell und eigenständig Innovationen umzusetzen.
- Von Projektdenken zu Produktdenken: IT-Services werden als kontinuierlich weiterentwickelte Produkte verstanden, nicht als abgeschlossene Projekte.
- Die IT-Abteilung muss sich vom reinen „Systemverwalter“ zum „Architekten für Veränderung“ wandeln. Ihre Hauptaufgabe ist nicht mehr die Wartung von Altsystemen, sondern die Schaffung einer flexiblen, modularen Architektur, die es den Fachbereichen ermöglicht, schnell und eigenständig Innovationen umzusetzen.
Architektonische Offenheit als Grundlage digitaler Agilität
Digitale Agilität entsteht nicht durch den Austausch von Tools oder die Migration auf neue Systeme. Sie entsteht durch architektonische Offenheit. Sie entsteht durch Strukturen, die Veränderung nicht nur zulassen, sondern zur Grundlogik machen.
Der eigentliche Fortschritt liegt darin, Veränderung zur Systemlogik zu machen. Wenn Prozesse unabhängig von Systemen definiert werden, wenn Daten systemübergreifend verfügbar sind, wenn KI-Komponenten nahtlos integriert werden können, wird die IT vom Bremsklotz zum Beschleuniger.
Unternehmen, die diesen Wandel vollziehen, verschaffen sich einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil. Sie können nicht nur schneller auf Marktveränderungen reagieren, sondern diese aktiv mitgestalten. KI muss nicht mehr auf bestehende Strukturen warten, sondern kann diese selbst verändern, optimieren, neu orchestrieren.
Die Herausforderung ist weniger technisch als strategisch. Es geht nicht um die Frage, welche Technologie die richtige ist, sondern um die Bereitschaft, gewachsene Strukturen grundlegend zu hinterfragen. Wer erkennt, dass Offenheit wichtiger ist als Perfektion, dass Orchestrierung wichtiger ist als Integration, dass Logik-/Prozesszentrierung wichtiger ist als Systemzentrierung schafft die Voraussetzungen für echten Fortschritt.


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